Ein kirgisischer Western

ROMAN

 

Erwin Einzinger ist der Meister des Großromans. In diesem beweist er, dass es auch im Osten Stoff für Western gibt, so z.B. bei dem kleinen Stamm der Kirgisen, die sich auch nicht anders zu retten wissen als wir.

 

»Hatte er alles auf die gute alte Art erfunden?« Die Frage, die sich der gute alte Erzähler hier stellt, ist nicht ganz abwegig. Zumal er selbst immer wieder auf Abwege gerät, wenn er seine Figuren auf ihren Reisen in die entlegensten Winkel der Welt begleitet.

Wobei – was heißt schon »entlegen«? Die Fläche, die dieser Roman durchmisst, fließt auf allen Seiten ins Unendliche hinaus, und überall spielt das Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen. Das Zentrum dieser Welt könnte das Erholungsheim

für mittellos gewordene Komponisten sein, aber auch ein Workshop der Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautorinnen oder das Goldwäscher-Camp in den Alpen.

Wo auch immer es liegt, zu den Rändern ist es immer gleich weit wie umgekehrt. Und so sind hier alle irgendwie unterwegs. Nur, was sie suchen, das scheint keiner so recht zu wissen. Das große Abenteuer? Die kleinen Momente stillen Glücks? Oder gar den Glanz

des Goldes? Fest steht: Wie so oft beginnen auch die Reisen in diesem Buch zu Fuß. Im Takt der Schritte, die vom Hundertsten ins Tausendste führen, spielt, wie immer bei Erwin Einzinger, die Musik – kein Marsch, aber ein wilder Galopp.

erschienen 2015 im Verlag

JUNG UND JUNG

 

ISBN: [978-3-99027-066-0]



Rezensionen

28.11.2015 - Neue Zürcher Zeitung - "Poetischer Goldstaub" - Ingeborg Waldinger

Der Österreicher Erwin Einzinger hat einen «kirgisischen Western» geschrieben

 

Die Eroberung des «Wilden Westen» bildet den Gründungsmythos der USA. Aus dieser grossen Erzählung schöpft auch der klassische Western, ein Genre, mit dessen Signalwirkung nun Erwin Einzinger kokettiert: «Ein kirgisischer Western» heisst sein neuestes, als Roman ausgewiesenes Buch.

Eine Art zentralasiatischer Eastern, könnte man vermuten. Erst spät erfährt der Leser, woher der Titel-Wind weht; wirklich erhellend ist das aber nicht. Auf fast 500 Seiten verwirbelt der Autor Erzählfragmente, deren gemeinsamer Nenner kaum auszumachen ist. Und doch gibt es etwas, das Einzingers Welt im Innersten zusammenhält. Es ist der verführerische, bodenlose wie auch erhabene Glanz des Goldes. Das edle Metall irrlichtert in seiner sprichwörtlichen Bedeutung durchs Werk (goldene Regel), als Metapher des Machtrausches (Rheingold) und der Barbarei (Zahngold von KZ-Häftlingen), als Sinnbild der Glückssuche (Goldwaschkurs) - und der Poesie: Der wahre Dichter vermag noch aus dem profansten Grau des Alltags Goldstaub herauszufiltern.

Das Personal dieses Romans bleibt meist namenlos. Da tummeln sich Literatur- und Musikschaffende, ein philosophierender Müllmann, trampende Bergbaustudenten, urlaubendes Bordpersonal der Hurtigruten-Linie, Eisenbahnnostalgiker und viele andere mehr. Als Hauptfigur kristallisiert sich für Hellhörige ein «waidwund wirkender Weitwandersmann» heraus, der erst «zurückgezogen in einer ostdeutschen Stadt gelebt, dann sein Geld als Mitorganisator von Goldwaschkursen in der Schweiz verdient hatte», um schliesslich zu einem abenteuerlichen Fussmarsch Richtung China aufzubrechen. Dieser Mann - und da liesse sich womöglich eine Brücke zum Western bauen - treibt die Grenzen seiner Raum- und Selbsterfahrung voran, wie auch die Eroberer des Indianerlands ihre geografische und psychische «<frontier» vorangetrieben haben.

Einzingers Held plant, seine Berichte und Impressionen zu einem «privaten Notizbuch eines Herumtreibers und Weltenwanderers zu stilisieren». Aber folgt der Leser nicht schon die längste Zeit diesem Buch im Buch? Und wer ist nun sein Verfasser? Waren diese Aufzeichnungen nicht von einer psychisch labilen Verehrerin des Wanderers entwendet und unter deren Namen publiziert worden, während der Verfasser schliesslich als verschollen galt?!

Glaubwürdigkeit und Stringenz sind keine Kategorien in Einzingers Buch. Vielmehr verquickt der Autor in seiner magischen Collage Alltagsmanifestationen mit Erscheinungen, «die die heimliche Gegenwart des Märchenhaften zumindest denkbar erscheinen lassen». Es sind Splitter des Lebens, Miniaturen, aufgelesen in Patagonien und Polen, im Kärntner Gurktal und in Görlitz, auf den Lofoten, in Iran oder in der Schweiz.

Mit Sprachspiel und Ironie sensibilisiert Einzinger für die bizarren Koinzidenzen des Daseins: «Ein leichtes Knoblauchgerücherl zieht durch den Raum. Und zarte Musik für Sopran und Streichquartett von Ottorino Respighi.» Der Autor variiert den Reiz dieses Kontrastes lustvoll, so etwa auch in dem folgenden Shortcut: Drinnen fallen lautlos die Hüllen einer exotischen Schönheit, während draussen «Finken zanken. Ein laues Lüftchen zieht über die Spinatrampe. Das sind die Fakten.» Ach, diese gleichgültige Natur!

Die Überschriften der rund fünfzig Kapitel verweisen auf den offenen, vagabundierenden Charakter des «kirgisischen Western». Sie lauten «Streifzüge», «Optionen» oder «Spekulationen»>. Die Erzählfragmente verlaufen in Assoziationen. Sie sind durchwirkt mit poetologischen Reflexionen und Selbstreferenzen. Sie führen in einen narrativen Strudel - und an den «Abgrund». Über einen solchen schickt der Autor wohl auch jene Berggondel, der ein Mann zu einer Frau sagt: «Im Grunde ist alles Sehnsucht und Illusion.» Die Entfremdung des modernen Ich bleibt, aber Erwin Einzinger schreibt mit seiner postromantischen Universalpoesie dagegen an.


14.11.2015 - Die Presse - "Erzählen mit vollem Risiko - Evelyne Polt-Heinzl

"Ob Reihenhausgattin", erfolgloser Komponist oder polnische Kleinhäuslerin, bei Erwin Einzinger bekommen sie alle "Zertifikate", die ihre Anstrengungen nachweisen, etwas aus ihrem Lebenzu machen. "Ein kirgisischer Western": eine Verbindung des Globalen mit dem Provinziellen.

Von Evelyne Polt-Heinzl

Erwin Einzingers Lebensthema ist die Bestandsaufnahme der unscheinbaren Mittellagen, aus denen der Alltag besteht, und er fügt seine Beobachtungssplitter zunehmend freier zu globalen Panoramabildern. "Ein kirgisischer Western" untersucht in 51 im Inhaltsverzeichnis ordentlich durchnummerierten Themenknäueln einmal mehr die Webfehler und Hohlräume der Lebensoptionen in moderner, aber dürftiger Zeit, mit souveräner Lust an unvorhersehbaren Abzweigungen und mutwillig verschlungenen Verbindungsfäden. Es ist durchaus denkbar, dass das Buch mit diesem sonderbaren Titel in jener "Ratgeber für Rechthaber"-Wühlkiste eines "Papier- und Spielwarengeschäfts mit angeschlossener Buchhandlung" gelegen ist, in der auch die Sammlung, 51 Strudelrezepte zu finden war. 

Die Schauplätze ziehen ein Netz über den Globus, von Beratzhausen oder Wiener Neustadt bis nach Algier oder Chile, von Bamberg bis nach Jelenia Góra oder Liège, von den Beskiden bis in den Iran; ein Fußwanderer durch Polen kommt ebenso wie ein Lastwagenfahrer aus Rumänien vor und, zwei polnische Studenten trampen durch Norwegen, wo sie in Trondheim, der Partnerstadt von Graz, eine steirische Studentin kennenlernen. Literaturkritik fordert gern Welthaltigkeit ein und übersieht dann leicht unorthodoxe Konzepte, die das Globale und das Provinzielle zusammenführen. 

Wie immer bei Einzinger ist die Konstruktion des scheinbar Wildwuchernden kunstvoll. An allen Ecken und Enden tauchen Hinweise auf "reale" Bezüge auf. Besonders liebevoll sind stets die Übergänge gebastelt. Floskeln wie "Davon später mehr" sollte man trotzdem nicht allzu ernst nehmen, schon weil man zumindest bei einer ersten Lektüre kaum alle vom Autor ausgelegten Hölzchen auffinden wird.

Heißt ein Abschnitt „Supergirl", kann es um Beziehungs- und Heiratsangelegenheiten gehen, um Vogelhochzeiten oder um ein Feld voller Blaukrautköpfe - wozu der gelernte Österreicher den Zungenbrecher mit Brautkleid assoziieren kann, aber nicht muss. „Schnitte" sind Teil der Regiearbeit einer Seniorentheatergruppe oder einer collagierten Wallfahrtssatire; es kann sich aber auchum einen Messerschnitt bei einem Überfall handeln. Dieser entpuppt sich gegen Ende hin, wo viele der Momentbilder wieder auftauchen und zusammengeführt, mitunter auch aufgeklärt werden, als fingierte Aktion eines männlichen Cutters.

Im Übrigen sind alle Abschnitttitel von gekonnter Unschärfe, sodass fast jedes Partikel auch in eine Reihe anderer Schubladen von Einzingers Erzählschrank passen würde, die "Streifzüge", "Botschaften", "Wege", "Schwätzer", "Türen", "Kaffeepausen", "Reihenhausmaterial" oder "Strudel" heißen können. Und "Extravaganzen" sind in vielen Kapiteln zu finden so wie im wirklichen Leben. Taucht eine auf, scheint es kurz, "als würde das über weite Strecken nur noch mit Mühe über Stock und Stein voranholpernde, wenn nicht gar -humpelnde Erzählgeschehen wieder ein wenig Fahrt aufnehmen und auch für bestenfalls ganz am Rande sich Abspielendes Platz haben." 

Einzinger verortet seine Schicksalsminiaturen in "möglichst verschiedenen Milieus nicht nur in Hinblick auf soziale Schicht,Alter, Nationalität oder Wohnverhältnisse" und begegnet seinen Figuren stets unvoreingenommen und mit Empathie. Schließlich verwahren letztlich alle Menschen, die Reihenhausgattin, der erfolglose Komponist oder die polnische Kleinhäuslerin, in der einen oder anderen Form real oder ideell Zertifikate, die zeigen, dass sie "allerlei Anstrengungen unternommen" haben, etwas aus ihren Leben zu machen. Überall "auf Balkons da und dort", sieht der Autor nächtens die "seelisch Angeschlagenen" stehen, in Decken gehüllt und allzeit bereit für die große Veränderung".

Epizentren des Zusammentreffens verschiedener Figurenkreise können Schreibseminare sein, ein Goldwäscherworkshop in der Schweiz, ein Campingplatz, eine Tanzschule, ein Wohnheim für alternde Künstler. Nicht unwichtig sind die Autobiografische Gesellschaft, eine Oral-History-Spezialistin, die Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautorinnen oder die Grafologentreffen im Haus des italienischen Handschriftenkundlers Signore Elli. Seine „wahllos aus verschiedenfarbigen Mappen gezogenen Schriftstücke" tauchen im Erzählgeflecht als Schnipsel von Lebensgeschichten, Erlebnisberichten oder Gedankensammlungen aus dem zähen Brei des Alltags ebenso wie gefundene Notizen und Mitschriften auf.

"Erzählen mit allen Risiken? Auch das nur so nebenbei Gehörte oder von flanierenden Bummlern in Umlauf Gebrachte?", fragt Einzinger und verschränkt alte Schaustellertraditionen mit den zeittypischen Formen der Mobilität im Zeichen der Globalisierung, so wie er generell rezente Vorstellungen von großen Neuerungen und Errungenschaften der Zeit gern mit verschütteten Traditionslinien erdet. Denn an "das Verwirrende und an entscheidenden Stellen scheinbar in seine Bestandteile Zerfallene ist nur heranzukommen, wenn die zähen Ordnungsmuster zumindest vorübergehend an Geltung verlieren" und man sich nicht scheut, auch wagemutigere Vergleiche anzustellen oder Zusammenhänge munter zu verschieben". 

Unauffällig eingebaut sind allerlei kleine Rätselaufgaben. Aus der Geschichte einer ärmlichen Jugend im hohen Norden kann man die Biografie Knut Hamsuns erraten, aus dem wundersam nach Italien transferierten Haus der heiligen Familie das italienische Loreto, und im Schweizer Erzähler, der die Relativität des Outfits "überzeugend dargelegt" hat, lässt sich Gottfried Keller erkennen. "Durch die Lebensbilder Wildfremder stolpern wie durch einen schlecht beleuchteten Gang, in welchem links und rechts vollgerümpelte Kartons und diverse Transportkisten herumstehen." So lautet Einzingers Programm.

Wenn Einzinger die Übel unserer Zeit an bestimmten Phänomenen festmacht, dann vielleicht am verordneten Drang der Menschen, etwas Besonderes sein zu wollen, an langen Diskussionen "ohne jeglichen Nährstoff" und an jeder Art von vollmundigen Phrasen. Kommen sie in Form eines Druckerzeugnisses daher, lässt er das Corpus Delicti des Ungeists schnell einmal einen Wanderer zum Ausstopfen seiner nass gewordenen Schuhe verwenden. 

 


31.10.2015 - Oberösterreichische Nachrichten - "Der Jongleur der Unübersichtlichkeit" - Christian Schacherreiter

Auf eine Reise in den Osten schickt der oberösterreichische Schriftsteller Erwin Einzinger die Leser in "Ein kirgisischer Western". Erwin Einzinger stellt nicht nur seine Leser, sondern auch seine Rezensenten vor eine stramme Herausforderung. Es ist so gut wie unmöglich, den Plot seines neuen Romans kurz zusammenzufassen, denn es gibt keinen. Und eines soll auch von vornherein geklärt werden: Das Buch "Ein kirgisischer Western" ist so manches, aber ein kirgisischer Western ist es natürlich nicht. Das überrascht freilich keinen, der Einzingers eigenwillige, nicht kategorisierbare Prosa kennt. Ähnlich wie im großen Vorgängerroman "Von Dschalalabad nach Bad Schallerbach" (2010) breitet der im oberösterreichischen Micheldorf lebende Autor auch diesmal wieder auf 460 Seiten eineunübersehbare Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Schauplätzen aus. Wir begegnen einer Gesangsschülerin und ihrer Lehrerin, Biologinnen, einem Nervenarzt, einer ehemaligen Jugendmeisterin im Turmspringen, dem "Schlangenheini" und seiner Schwester, der Großmutter einer slowakischen Tänzerin und vielen anderen mehr, unter anderem auch einem pensionierten Uhrenvertreter, der vor längeren Spaziergängen einen Schuhlöffel, einen Schraubenschlüssel oder eine Eieruhr auf den Wohnzimmerteppich legt, damit er nach seiner Rückkehr darüber nachdenken kann, warum er das getan hat. So schützt sich der Mann vor Langeweile.

Während manche Berichte und Kurzerzählungen einen Hang zum Surrealen und Skurrilen aufweisen, wirken andere recht alltäglich, geradezu unerheblich - so etwa der Ärger eines gewissen Orlovski darüber, dass seine Nichte schon zum zweiten Mal nicht zur Gala-Nacht des Sports eingeladen worden ist. Es gibt einen Protagonisten, dem Erwin Einzinger von Zeit zu Zeit einen Kurzauftritt ermöglicht. Es handelt sich um einen an Hautausschlägen leidenden Mann, der einige Enttäuschungen und Rückschläge verkraften musste und dies zum Anlass nimmt, zu einem Fußmarsch aufzubrechen, der ihn, den "ein wenig waidwund wirkenden Weitwandersmann", unter anderem auch durch kirgisische Gebirgstäler führen soll.

Reiseliteratur im üblichen Sinn des Begriffs entsteht dadurch allerdings nicht, wenn auch das Reise-und Wandermotiv im Roman immer wieder angespielt wird. Erwin Einzinger, dieser Jongleur der Unübersichtlichkeit, hat eine unverwechselbare Erzählweise entwickelt. Die meisten Details seiner Prosaminiaturen wirken "realistisch". Es handelt sich um Beobachtungen, Impressionen und Ereignisse aus dem ganz normalen Alltag. So manche Geschichte hat die besondere Qualität einer Anekdote- oder auch einer Anti-Anekdote, weil Einzinger bewusst die Pointe verweigert. So realistisch aber die meisten Prosaminiaturen für sich genommen auch erscheinen, durch ihre scheinbar zufällige, verwirrende Anordnung zu einem großen, bunten, vordergründig chaotischen Bilderbogen der menschlichen Komödie bekommt selbst das "normalste" Alltagsereignis den Anschein des Absurden. So wird die Einzinger-Lektüre nicht nur zu einem ästhetischen, sondern auch zu einem philosophischen Vergnügen der etwas anderen Art. 


29.8.2015 - Der Standard - "Magier der Vergegenwärtigung" - Gerhard Melzer

Jenseits der Zwänge genormter Wahrnehmung: Erwin Einzinger wirbelt in seinem Roman "Ein kirgisischer Western" im Sediment des Alltags Goldstaub auf.

 

So ein Kunststück muss erst einmal gelingen: Da vermeidet einer über nahezu fünfhundert Seiten hinweg jeden Anflug konventionellen Erzählens, und zuletzt hat er trotzdem eine Erzählwelt unvorstellbaren Reichtums ausgebreitet. Erwin Einzinger, der diesen Spagat in seinem jüngsten Roman scheinbar mühelos schafft, gehört zu den großen Unbekannten der österreichischen Literatur. Das mag nicht zuletzteiner Erzählweise geschuldet sein, die von jeher die Ordnung und den Zusammenhang von Geschichten verweigert. Die Devise etwa, unter die Einzinger sein Prosabuch "Das wilde Brot" (1995) stellte, lautete: „Löchrig schreiben. Alles sogenannte Nebensächliche und Zufällige klar hervortreten lassen, während die großen und festen Umrisse bestenfalls den Hintergrund bilden..." Ähnlich verfährt Einzinger auch im "Kirgisischen Western". Schon der Titel erweist sich als Provokation, denn was es damit auf sich hat, erfährt man erst ganz am Schluss, und dass man es dann weiß, fügt dem Verständnis des Buches nicht unbedingt neue Facetten hinzu. Dieses Verständnis hat bis dahin längst ablassen müssen von allen Erwartungen, die auf narrative Stringenz und Geschlossenheit gerichtet waren. Nicht zufällig ragen Bruchstücke eines Roadmovies durch das zerschlissene Textgewebe. Einem bewährten literarischen Modell folgend, erscheinen Reise und Erzählbewegung synchronisiert, doch es ist in diesem Fall eine wüst mäandernde, ziellose Bewegung, die Einzinger entfesselt. In diese Bewegung eingelagert ist nicht die eine, zusammenhängende Geschichte, sondern ein Ensemble aus zahllosen abgerissenen und abgebrochenen Episoden. Über diesen Episoden schwebt leicht, luftig und souverän eine Erzählinstanz, die sich alle Freiheiten des Abschweifens und Hakenschlagens nimmt. "Da es im Verlauf des bisher Berichteten noch kein einziges Mal so richtig geschüttet hat, wird es langsam Zeit, dass auch eine ordentliche Schlechtwetterwoche Erwähnung findet. "Die Poetik, der Einzinger verpflichtet ist, bringt Geschichten über Geschichten hervor, einen wahren Ansturm der Einzelheiten", in dem man leicht den Überblick verliert und, geht es nach dem Autor, auch verlieren soll. Was eine der vielen namenlosen Figuren einem Gesprächspartner empfiehlt, erscheint in Einzingers detailtrunkenem Romankosmos verwirklicht: „Erzählen Sie doch weiter einfach drauflos und lassen Sie eins aufs andere folgen, wie es Ihnen gerade in den Sinn kommt. Es muss sich nicht alles erschließen." Einzinger vermeidet es, die Deutungshoheit über sein Erzählgebilde zu gewinnen. Sein Roman saugt in einem fort Welt an, die erin ihrer Vielfalt und Fülle auf sich beruhen lässt. Er unterwirft diesen Reichtum keiner Ordnung, sondern bringt ihn zum Leuchten. Was sich im Kirgisischen Western ereignet, ist kaum wiederzugeben. Stattdessen entfaltet der Text seine ganze Wirkkraft im Moment des Lesens. Einzinger ist ein Magier der Vergegenwärtigung. Während Erzählzusammenhänge undeutlich bleiben, treten Dinge, Situationen, atmosphärische Gegebenheiten mit großer Klarheit und Trennschärfe zutage. Entbunden von den Zwängengenormter Wahrnehmung, zielen Blick und Sprache auf den abgründigen Eigensinn der Welt. Wie er beispielsweise in der Beschreibung eines Sommertages aufblitzt, in den schon der nahende Herbst hineinspielt: „An einem späten Augustnachmittag zusehen, wie erste vertrocknete Blätter aus den Bäumen ins Gras segeln, während andere, noch einigermaßen grüne, ihre endlosen Ruderbewegungen an ihren Zweigen vollführen (...). Vor den Stufen eines Gutshofs arbeitet ein Gebückter mit der Schleifmaschine. Staub auf den Gräsern am Weg. Am Tümpel dahinter trinken müde Bienen, und am Himmel stehen Schleierwolken." Einzingers Schreiben treibt, wie es an einer Stelle einmal heißt, die schönsten "Augenblicksblüten", deren wild wuchernde Abfolge dann freilich doch die eine oder andere Orientierungsboje wiederkehrender Motive und Themen erkennen lässt. Dazu gehören etwa Musikzitate von Chopin bis Howlin Wolf, wie sie schon Einzingers fantastische Geschichte der Unterhaltungsmusik instrumentiert hatten. Oder das Schürfen und Waschen von Gold, das zusehends zur leitenden Energie der Reise- und Erzählbewegung wird. In der Goldsuche manifestiert sich letztlich die Sehnsucht nach Glück, doch die Rastlosigkeit, mit der Einzingers Personal durch den Roman streunt, macht deutlich, dass diese Sehnsucht ungestillt bleibt. Nuggets, die das große Glück verheißen, sind kaum noch zu finden. Aber immerhin glänzt da und dort in den trüben Sedimenten des Alltags so etwas wie Goldstaub auf. Einzingers Sprache ist darauf aus, diesem zarten Schimmer Geltung zu verschaffen, und erhält damit die Hoffnung aufrecht, dass die Suche dereinst gegen allen Augenschein doch erfolgreich sein könnte: Wo schon kein Glanz ist, soll wenigstens Abglanz sein.


ORF - Ex Libris - Susanne Schaber

Erwin Einzinger, Ein kirgisischer Western, Roman, Jung und Jung „Wenn sich ein Mensch von zu Hause aufmacht und immer weiter geht, kommt er eines Tages an seine eigene Tür zurück“, liest man bei John Mandeville, einem der berühmtesten mittelalterlichen Pilger. Und durch diese Tür, von der Mandeville spricht, tritt der Reisende schließlich bei sich selbst ein, mit einer neuen Sicht auf die Welt im Gepäck. Erwin Einzinger würde Sätzen wie diesen wohl zustimmen. Sein jüngster Roman mit dem Titel „Ein kirgisischer Western“ startet eine Expedition im umfassenden Sinn: Er entwirft das in alle Richtungen ausufernde Panorama einer Reise, die Grenzen aufhebt und zur Selbsterfahrung wird. Der Roman präsentiert sich als ungewöhnliches literarisches Gebilde, das die Vorgaben des Genres sprengt. Einzinger bringt einen Mann auf den Weg, der einen gewaltigen Fußmarsch vor sich hat. Aber nicht auf einem der vielbegangenen, mit rot-weiß-roten Farben und zwei bis dreistelligen Ziffern ausgeschilderten Fernwanderwege, sondern auf einer wenig bekannten Route: Sie soll, ganz gegen die Tradition des Westerns, in den Osten ziehen und über Polen, die Ukraine und Russland nach Kirgisistan laufen, um schließlich das frühere Reich der Mitte zu erreichen. Von einer Reise wie dieser könnte man sicher einiges erzählen. Doch das wäre dem Autor zu wenig. Einzinger hat Größeres vor: Sein Roman wird zu einer Tour de Force durch einen Urwald an Geschichten, Betrachtungen und Begebenheiten, die keinen oder wenig Sinn ergeben und dann wieder einen Hintersinn. Zusammen spiegeln sie die Absurdität und den Wahnsinn unseres Daseins. Die Handlung des Bandes ist nicht so leicht zu fassen. Es gibt den Wanderer, und es gibt eine Unzahl von Wegmarken, denen er folgt – und doch auch wieder nicht. Einzinger schickt gefühlte Hundertschaften von Figuren auf das, was man die Straße des Lebens nennen würde: den Abfallinspizienten, die Volksmusikforscherin und den Magier, die Laborantin, den Musikalienhändler und den Seemann. Einigen von ihnen begegnet man mehrmals, andere haben nur einen Auftritt oder eine kurze Szene. Und die kann alles sein: eine Anekdote, eine Begegnung, eine Verwirrung, die Ahnung jedenfalls von biographischen Unwägbarkeiten und Brüchen, die den Boden der Wirklichkeit so fragil machen. Da sind etwa die beiden Studenten aus Polen, die mit dem Rucksack durch Norwegen trampen und dort das Gefühl des Fremdsein ausloten, oder der Matrose mit seinen dreihundert Kompositionen, von denen nur vier Zeilen brauchbar sind. Oder auch der Pelztierjäger mit seinem unfassbaren Erbe: Er hat seine erkrankte Hündin auf einer einsamen Insel vor Chile zurückgelassen, nicht ahnend, dass sie trächtig war. Ihre Nachkommenschaft hat vor Ort für mächtige Unruhe in der Fauna gesorgt. So wie Chile blitzt auch eine Vielzahl weiterer Orte auf, Venedig, die Beskiden, die Pyrenäen. Und mit ihnen ein Unmenge an Sujets, die sich frei nach Paul Eluard aneinanderreihen: Eine Poesie, so hat der französische Lyriker apodiktisch erklärt, die sich bestimmten Themen versage, sei eine minderwertige Dichtung. Erwin Einzinger, das spürt man schnell, vertritt einen Satz wie diesen mit vollem Herzen. Er selbst betreibt eine Art Goldwäscherei – ein Motiv übrigens, das den Roman durchzieht: Er sucht etwas Funkelndes aus dem grauen Sand zu sieben und damit ans Licht zu bringen, was sonst verborgen bliebe. Einzinger liebt die Dissonanzen, das Banale, das Hinterhältige im scheinbar Alltäglichen. Wer sich auf seinen Western einlässt, muss wissen, dass er sich niemals in Sicherheit wiegen darf. Überall kann ein Abhang lauern, eine plötzliche Sackgasse, eine Attacke auf das eigene Selbstverständnis als Leserin oder Leser. Ab und zu ist ein roter Faden zu entdecken, der dann wieder verschwindet. Besser, man fahndet nicht zu verbissen nach den Linien der Handlung oder nach einer Konstruktion, die den Roman schlüssig zusammenschraubt. Und schon gar nicht nach Antworten auf die ungezählten Fragen, die sich mit der Fülle an Episoden auftun. Es sei erlaubt, das Beobachtungsfeld geringfügig zu erweitern, liest man gleich auf den ersten Seiten des Romans. Ein Satz, der auf die Poetik des Bandes einstimmt: In diesem „Kirgisischen Western“ bekommt man mehr vorgesetzt als anderswo. Und das in eigenwilligem Ton. Ob Mozart, Chopin oder die Stones. Der Autor und die Musik bilden eine enge Allianz. Das Buch wechselt zwischen Dur und Moll, die Sprache ist verspielt, immer wieder einmal dekorativ verschnörkelt und wunderlich abgehoben. Erwin Einzinger spickt seinen Western geradezu mit Anspielungen und Zitaten. Für uns Leserinnen und Leser bedeutet das einen Galopp auf einem ungebändigten Pferd. Es ist ziemlich anstrengend, die Zügel in der Hand zu halten und der Route zu folgen, die der Autor vorgibt. Die Mühen der Ebene sind beträchtlich. Allein die Ausblicke, die sich dann wieder auftun, wecken frische Leseenergien. Und doch wird man sich nach der Lektüre ziemlich entrückt oder auch verwirrt fühlen. Aber warum nicht von Zeit zu Zeit sich selbst ein Rätsel sein, wie Einzinger befindet? Wie also soll man´s angehen, mit einem Buch wie diesem, wie soll man seine Kräfte einteilen für ein so breites Abenteuer? Zu lesen beginnen und nicht mehr aufhören, bis die letzte Seite erreicht ist? Oder aber man genehmigt sich diesen Western in kleinen Dosen. Häppchen für Häppchen, 51 Kapitel wie 51 Exerzitien. Am besten in der Früh genossen, vor dem Aufbruch in den Tag, wenn man sich noch vollends frisch fühlt. Abends könnte einen die Prosa von Erwin Einzinger schlecht einschlafen lassen. Es sei denn, man fürchtet sich nicht vor besonders skurrilen Träumen: In diesem „Kirgisischen Western“ jedenfalls steckt dafür genügend Stoff.


24.5.2015 - wienerzeitung.at - "Meister der Abschweifung" - Werner Schandor

Auf dem Umschlag ist ein sogenannter Blurb zu lesen: ein Zitat eines Prominenten zum Buch bzw. zur Person eines Autors. In diesem Fall äußerte sich Michael Köhlmeier auf sehr bodenständige Art über die Literatur des Schriftstellerkollegen Erwin Einzinger: "Einzinger, du Hund, bist uns allen voraus!", lässt er verlauten. Das ist insofern interessant, als Köhlmeier als Großmogul des Fabulierens gelten kann, während Erwin Einzinger sowohl in Lyrik als auch Prosa als Liebhaber gedrechselten Formulierens auftritt. Dies ist auch in seinem jüngsten Buch, "Ein kirgisischer Western", nicht anders: "Drei Tage lang schneidender Wind aus Nordwesten. In der Auslage des Optikerladens gegenüber hat der Dekorateur, der wahrscheinlich niemand anderer als der Sohn des altersdementen Geschäftsinhabers ist, diesmal aus irgendwelchen Gründen kleine handgearbeitete Strohpuppen placiert. Sein Neffe schickte ihm kürzlich eine Karte: Die Ferien gehen zu Ende, dennoch bin ich einigermaßen vergnügt."

 

Am vergnüglichsten ist Einzingers Prosa dann, wenn man sie erst gar nicht als Geschichte im Sinne einer Handlung oder eines Plots zu lesen versucht, sondern als Notizen eines wirklichkeitshungrigen Sprachliebhabers, der seine Beobachtungen in assoziativ aneinandergereihten Satzgirlanden zu Papier bringt. Nebensächliches, Banales, Koinzidenzen und zufällige Begegnungen, welche nie zu bleibenden Verbindungen führen, sind der Stoff, aus dem die 51 Kapitel des "kirgisischen Westerns" bestehen. Der Buchtitel führt einerseits in die Irre, weil weder das Westerngenre noch die Kirgisische Republik irgendeine besondere Rolle in Einzingers Text-Konglomerat spielen; andererseits bringt er die Erzählstrategie auf den Punkt, die darin besteht, lauter falsche Fährten zu legen und erzählerische Finten anzubringen.

 

Einzinger ist ein Meister der Abschweifung: Er setzt bei einer kleinen Begebenheit an und spinnt sie mehr oder weniger ausführlich weiter. Oftmals kommt es dabei zu etwas, das James Joyce "Epiphanien" nannte: Manifestationen des Transzendenten in den unscheinbaren Begebenheiten des Alltags. Einzinger selbst liegt der Begriff des Transzendenten vermutlich fern. Stattdessen zieht sich jener des Goldwaschens als dünner, blassroter Faden (einer von Tausenden Fäden, die den Text durchwirken bzw. darin ausfasern) durch seinen "Western": So wie ein Goldwäscher im Flusssand hin und wieder auf etwas Wertvolles stößt, so ballt sich für den Leser im Dahinplätschern der Anekdoten und Gedankensprünge immer wieder einmal etwas zu einem Konzentrat, das auf nichts als das Jetzt verweist. Nennen wir es Magie des Augenblicks. Oder: Poesie. Und das ist es vielleicht, was Köhlmeier mit seinem Zuruf, Einzinger sei seinen Kollegen weit voraus, gemeint haben könnte: Einzinger ist, auch wenn seine Prosa auf die Dauer absichtslos und peripher wirkt, durch und durch Poet. Es passt in seine Biografie, dass der 1953 geborene Lyriker, Prosaautor und Übersetzer auch Träger des H.-C.-Artmann-Preises der Stadt Wien ist: Einzinger macht sich ganz gut in den Fußstapfen des schillernden Silbenstechers aus Breitensee.

 

Die besten Western leben von ihrer langsamen Erzählweise. Auch den "kirgisischen Western" liest man am besten langsam. Nur auf diese Weise kann man die Lust am Formulieren, die Erwin Einzinger spürbar antreibt, angemessen auf sich einwirken lassen.


11.3.2015 - literaturhaus.at - Thomas Assinger

Man kommt herum als LeserIn des neuen Romans von Erwin Einzinger: Vom Nördlichen Eismeer ins südliche Chile, vom Kärntner Gurktal über die Beskiden bis nach Iowa. Zeile für Zeile eröffnet sich eine Welt zwischen Orten und Gegenden, auf deren Besuch keine illustrierten Reiseführer in Bahnhofsbuchhandlungen vorbereiten.

Schon die dem Romantext vorangestellten Motti – bei Sigrid Combüchen und Jean Paul geborgt – geben in nuce die literarästhetische Leitlinie vor: Nicht tönen und mit dem Finger zeigen, sondern lieber genau hinhören und hinsehen. Einzinger lässt in Ein kirgisischer Western hörbar und sichtbar werden, was gemeinhin unterhalb der Wahrnehmungsschwelle einer globalisierten und massenmedial präformierten Aufmerksamkeitsökonomie liegt. Er behauptet indes nicht lauthals die Wichtigkeit und Relevanz seiner Gegenstände, sondern führt sie durch strenge wie verspielte literarische Formarbeit zurück in die Wahrnehmung seiner Leserschaft. Der Text lässt seine Gegenstände und Figuren selbst zur Sprache kommen, sich vorstellen, von sich erzählen und bisweilen darf ein Geheimnis auch ein Geheimnis bleiben, wie etwa das merkwürdige Buch „mit dem sonderbaren Titel Ein kirgisischer Western“ (459), das seinen Platz im Text im Bücherregal der Vorstadtwohnung einer späteren Hotelrezeptionistin hat.

 

Unter den zahlreichen poetologischen Reflexionen, die vom Erzähler gerade wie von ausgewählten Figuren – etwa einem literaturaffinen ehemaligen Baupolier – angestellt werden, nimmt sich eine Passage durch überraschende Programmatik und den Erweis einer literaturgeschichtlichen Reverenz aus: „Einmal mehr versucht nun dieses Buch, das nicht zuletzt aus der Wunschvorstellung heraus entstanden sein mag, mit Geduld Material aus ganz unterschiedlichen Sphären zu verarbeiten und einzubinden, den Raum auch für Zwischenbemerkungen zu öffnen. Und in diesem Sinne darf wieder in Erinnerung gerufen werden, was Paul Eluard in einem Interview in La Gazette des Lettres vom 2. Februar 1946 erklärt hat: Poesie, die sich bestimmten Themen versage, sei eine minderwertige Poesie.“ (242) Das Buch gibt über sich selbst Auskunft: Wovon es nach seinen eigenen poetologischen Prämissen handelt, ist potenziell alles. Und auch die Sprache des Romans lässt sich in Alliterationen und Assonanzen, in Wortspielen und kleinen Manierismen hören, was gut gelaunten Ohren Freude bereitet und nie gesucht wirkt: Sei dies der Auftritt des „ein wenig wund wirkenden Weitwandersmann[es]“ (121), das verlängerte Wochenende mit „Schlemmen in Schallemmersdorf“ (370) oder „ein junger Reiher“, der – genau! – „[u]nten am Weiher“ (229) steht.

 

Die erzählerische Organisation des Ganzen folgt durchaus nicht jenen genrespezifischen Mustern, die der Romantitel nahelegen könnte. Die erzählte Welt ist jedenfalls nicht die eng begrenzte eines genrehaften Western, der in Kirgisistan situiert wäre. Im Gegenteil, so unbeschwert weltläufig hüpft selten ein Text von Kontinent zu Kontinent. Schon nach den ersten paar Seiten stellen sich mindestens zwei Fragen: Wovon wird hier eigentlich erzählt? und: Wie passt das alles zusammen? In insgesamt 51 Kapiteln, die selbst wiederum in kürzere Abschnitte unterteilt sind, begegnet man einer Vielzahl von Figuren, manchen flüchtig, quasi im Vorbeigehen, anderen wiederholt und wieder andere begleitet man länger, so etwa die beiden polnischen Studenten der Metallurgie Tadeusz und Leszek auf ihrer Rucksacktour durch Norwegen. Von manchen Orten, etwa einem Erholungsheim für abgebrannte Komponisten, ist öfters die Rede; der hügelige Westen Großbritanniens hingegen wird in einem Nebensatz gerade einmal erwähnt. Präsentiert wird all das in einem Modus fragmentarischen Erzählens vieler kurzer Geschichten und Eindrücke. Es werden Anekdoten zum Besten gegeben, kunsthistorische Exkurse folgen auf Lokalhistörchen. Man erfährt in genealogischen Ausführungen manches über Vorfahren und Vorzeiten, während wie zufällig Verwandtschaften und Bekanntschaften zwischen Figuren aufblitzen, die noch kurz zuvor scheinbar nichts miteinander zu tun hatten. Dazwischen, davor und danach stößt man auf reichlich Detailwissen aus Geschichtsbüchern, aus dem Fernsehen und vom textintern stilisierten Hörensagen. Schon im ersten Satz erfahren wir, was wir bislang womöglich nicht gewusst haben: „Vor neuntausend Jahren wuchs die erste Gerste.“ (7) Manchmal hingegen weiß auch die Erzählinstanz nicht weiter, begnügt sich mit Anspielungen oder ergeht sich in ausgiebigen und nicht selten amüsanten Umschreibungen, statt Namen und Daten zu nennen.

 

Ein Motiv, das den Roman durchzieht, ist das Zurücklegen weiter Wegstrecken zu Fuß. Die einschlägigen Fußgänger treten als „moderne[...] Pilgersleute“ oder „agnostische[...] Weitwanderer“ (275) auf. Als rätselhafte Hauptfigur ist der langjährige Lebensgefährte einer Sopranistin auszumachen, der von starken Hautausschlägen malträtiert „zunächst zurückgezogen in einer ostdeutschen Stadt gelebt, dann sein Geld als Mitorganisator von Goldwaschkursen in der Schweiz verdient hatte, bevor er auf die verrückte Idee verfallen war, seinen Job aufzugeben, um zu einer abenteuerlichen Weitwanderung Richtung China aufzubrechen, die sich über mehrere Jahre hinziehen sollte.“ (459) Ganz unvermutet taucht dieser Wandersmann mit seinen Insignien – Rucksack und Rindslederhut – im Text wiederholt auf, beispielsweise auf einem Friedhof, wo er mit Hochprozentigem aus seinem Flachmann die Blumen auf dem Grab eines polnischen Dichters gießt. Genaueres über seine Weitwanderunternehmung und ihre Planung lässt sich nur vermuten. Jedenfalls steht sie in Zusammenhang mit Schriftstücken und Aufzeichnungen des Wanderers, die ein venezianischer Sammler und Antiquar namens Signore Elli säuberlich vermappt aufbewahrt. Diese reichen bis in die Jugendjahre des späteren Wandersmanns zurück, in denen er eine literarische „Idee zu einer Folge von in loser Form aufeinander bezogenen Berichten und Impressionen [hatte], die er zu einem privaten Notizbuch eines Herumtreibers und Weltenwanderers stilisieren wollte.“ (466)

 

Wie hängen nun diese verstreuten Aufzeichnungen, die Weitwanderunternehmung, das erwähnte Buch mit dem Titel Ein kirgisischer Western und all das andere, die zahlreichen Figuren, die disparaten Geschehnisse, die verstreuten Orte, die sich zwischen den zwei Buchdeckeln finden, miteinander zusammen? Hin und wieder zeichnen sich während der Lektüre unverhoffte Verbindungen ab, manchmal erkennt man unversehens außergewöhnliche Verwandtschaften, stößt auf die mögliche Ursache eines Ereignisses; ja gar die Vermutung, dass die Aufzeichnungen des Weitwanderers, von denen des Öfteren die Rede ist, vielleicht im Romantext selbst zu finden sein könnten, liegt zeitweise nahe. Eines aber ist sicher: Erwin Einzingers Schreibweise, seine „Schule der Aufmerksamkeit“, wie es Leopold Federmair genannt hat, seine Kunst des Auswählens und Arrangierens bringt eine Textwelt hervor, die durchwegs Freude macht. Und gerne lässt man sich vom Erzähler adressieren, wird Teil des gemeinschaftlichen Wir, das angeboten wird, auf einer Reise durch einen Roman, in dem allerhand zu sehen und zu hören, also zu lesen ist.