Barfuß  ins  Kino

GEDICHTE

 

 Einzinger ist ein stiller Gigant der österreichischen Literatur. Und das können Sie ruhig laut sagen.

 

Folgendes: Was es in diesen Gedichten zu sehen, zu hören und zu schmecken gibt, das passt wahrlich auf keine kuhhaut. Dazu braucht es schon die ganzgroße Leinwand, und Erwin Einzinger spannt sie für uns auf »Um gleich noch einmal von vorne zu beginnen«: In diesen Gedichten spielt es sich gewaltig ab! In einen Roman würde das, wovon hier so taufrisch und munter erzählt wird, gar nicht alles passen. Ja, man liest und staunt, dass die Welt groß genug ist für das Universum von Erwin Einzinger. Vielleicht weil es vor allem die so genannten kleinen Dinge sind, auf die die Sonne hier scheint, als wäre sie gerade zum ersten Mal aufgegangen. Die Dinge, die man gerne übersieht und die man in Büchern erst recht suchen muss, der frische Vogelkot in der Traktorspur, eine weggeworfene Nackenstütze im Straßengraben, ein Flamencokleid an einem an der Küchenkredenz baumelnden Kleiderhaken. Das alles gibt es da draußen, vor unserer Tür und in der weiten Welt, und dass es so ist und dass wir dazugehören, ist schön zu wissen. »Glücklich diejenigen, denen die Sonne auf die Zehennägel scheint!«

erschienen 2013 im Verlag +

JUNG UND JUNG

 

ISBN: [978-3-99027-042-4 ]



REZENSIONEN

2.6.2014 - deutschlandfunk.de - "Fabelhaft komische Poesie" - Wiebke Porombka

Die Gedichte in Erwin Einzingers neuem Band „Barfuß ins Kino“ sind nur von vermeintlicher Schlichtheit. Seine Poesie ist zauberhaft verschmitzt und mitunter zart kalauernd. Aus Nebensächlichkeiten des Alltags macht er Gedichte über das Leben.

 

Erwin Einzinger liest auf, was ihm am Wegesrand begegnet – und schafft daraus Gedichte von vermeintlicher Schlichtheit. 

 

Eine der schönsten, weil philosophischsten Episoden aus Astrid Lindgrens Kinderbuch-Klassiker Pippi Langstrumpf ist jener Ausflug, auf dem die kleine Anarchistin Pippi ihren beiden spießbürgerlichen Freunden Tommi und Annika die hohe Kunst des Sachensuchens erklärt. All das, was andere weggeworfen, verloren oder unbeachtet am Wegesrand haben liegen lassen – eine Schraube, eine tote Maus oder ein verrosteter Eimer etwa – ist für den Sachensucher eine Trouvaille, ein kleiner Schatz, der fortan sorgsam gehütet oder nach Belieben umfunktioniert wird.

Ebenfalls eine Art Sachensucher, einer, der den Blick auf Menschen, kleine Szenen, scheinbar unbedeutende Episoden aus dem Alltag lenkt, ist Erwin Einzinger. Mehr noch als dass er wirklich sucht, hat man bei Einzingers ebenso zurückhaltenden wie zauberhaft verschmitzten, mitunter zart kalauernden Gedichten den Eindruck: Hier muss einer gar nicht angestrengt suchen, hier liest einer nur das auf, was ihm zufällig begegnet: Eine junge Frau, die auf dem Parkplatz eines leer stehenden Möbelhauses unter den unwilligen Augen ihres Vaters Autofahren übt; ein Lied über einen hübschen kleinen Konditoreiserviererinnenbusen oder einen Wettbewerb im Blechdosenwerfen.

In vermeintlicher Schlichtheit liegt Stärke

„Barfuß ins Kino“ – der Titel von Einzingers jüngstem Band kann dabei gleichsam als ein kleines Programm verstanden werden: Viel zu begucken gibt es hier allemal, allein: Mit poetischem Handwerkszeug muss nicht geklingelt werden. Der Dichter kommt auf bloßen Sohlen. Aber gerade in ihrer vermeintlichen Schlichtheit liegt die Stärke von Einzingers Gedichten.

 

„Der Mechaniker aus einem Vorort von Ingolstadt, in dessen

Werkstätte überall sogenannte Arsch-&-Titten-Kalender hingen, er=

Zählte von einer Geiß, die vor nächtlichen Unwettern stets

In einer Hundehütte Zuflucht suchte. Was er verschwieg: Am Welt=

Nichtrauchertag wäre er beinahe in einen Karpfen=

Teich gefallen, als er junge Finken beim Trinken beobachtete.

 

Peterle, der staunend zugesehen hatte, wie seine Schwester eine

Seerosenblüte aus dem Wasser fischte & anfing, sie

In aller Ruhe schmatzend zu verspeisen, wobei ihm der Saft

Über Lippen & Kinn tropfte, schrieb tags darauf

Als ersten Satz in sein neues Hausaufgabenübungsheft: „Mein Onkel wohnt

In einer Filzgarage.“ Nachts schlug auch er im Traum öfters um sich.“

 

Wer außer Peterle nachts um sich schlägt, auf wen sich dieses „auch“ bezieht, das bleibt offen. Genauso wie all jenes unerwähnt bleibt, was der Mechaniker aus Ingolstadt neben seinem Beinahe-Fall in den Karpfenteich noch hätte erzählen können.

 

Wenn jemand, wie Erwin Einziger, aufliest, was ihm am Wegesrand begegnet, dann weiß er natürlich auch von dem ganzen unendlichen Rest, der geschieht, gedacht, gesagt wird, ohne dass er entdeckt und festgehalten wird: in einem Gedicht beispielsweise. Anfang und Ende eines solchen Gedichts sind deshalb der Willkür des Sammlers geschuldet, mitunter ergeben sie sich auch wie natürlich durch das Geschehen selbst. So schließt sich an die Szenen über den Ingolstädter Mechaniker und Peterle samt seiner seerosenblütenfischenden Schwester eine Szene an, deren müde Gestalten sanft zu entschlummern scheinen und auf diese Weise auch das Gedicht sein Ende finden lassen.

 

„Es war dann eine unscheinbare Kaffeehausecke in einer

Bäckerei in der Innenstadt, wo in der frühen Morgendämmerung

Mehrere übernächtigt wirkende Heimkehrer aus

Gottes dunklen Alleen beisammen saßen, sich die Augen rieben

& gähnten, bis sie kapierten, daß ihre am Abend zuvor

An einem Flohmarkt begonnene Wanderung nun wohl zu Ende war.“

 

Große Gedanken hinter Miniaturen

 

Kleine Schätze sind allein schon die Titel von Einzingers Gedichten. Arglos kommen sie daher und sind doch von grandioser Komik, gerade da, wo ihr Bezug zu dem Gedicht dem Leser verborgen bleibt und sie gleichsam als Schnipsel universeller Kontingenz über einem Gedicht zu stehen scheinen, das ja von eben jener erzählt.

„Elektrische Nächte mit einem Beigeschmack von Kokosnuss“ heißt das eben zitierte. Daneben gibt es den „Marmeladenmonolog“, „Wo die Weltkarte die Farbe von zartem Blattspinat zeigt“ oder auch „Weiße Dosen aus Athen“, „Ein Knirschen, wie wenn jemand ein Hustenzuckerl zertritt“ oder „Wer stiehlt, sucht das Abenteuer (oder vielleicht auch bloß frische Servietten?)“.

Witz wird in Einzingers Gedichten permanent dadurch produziert, dass hier das eigentlich Unverbundene, das Nicht-Passende verbunden oder doch zumindest dicht nebeneinander gerückt wird.

Zweifelsohne lässt sich viel darüber spekulieren, welche großen Gedanken hinter Einzingers Miniaturen stecken: Über die Welt, die sich nicht erfassen lässt in ihrer Mannigfaltigkeit, über die Synchronizität aller Ereignisse und Gedanken, der verschiedenen wie auch der erstaunlicherweise sich ähnelnden.

Vermutlich würde Einzinger jetzt erwidern: Zusammenhang stiften? Mitnichten. Wenn der Leser das tut – bitte sehr. Der Autor steht scheinbar ganz unschuldig da und pickt hier ein Stücken Gegenwart, dort ein Fitzelchen Nebensächlichkeit auf, um es zu seinen kleinen-großen Gedichten über das Leben zusammenzunähen.

Charmant, fabelhaft komisch, philosophisch

Nur hin und wieder flicht Einzinger eine ironiefreie Deutung seines Schaffens ein. Wie in dem Gedicht über den Besuch bei einer spanischen Landarbeiterfamilie, deren Mitglieder ungerührt von ihren Gästen den nebensächlichsten Beschäftigungen nachgehen. Die Gäste wiederum sind nur kurz irritiert.

 

„Schon nach kurzer Zeit ver=

Selbständigt sich das Zusammenspiel der Momente auf eine

Weise, die tiefes Verständnis für das insgeheim

Beruhigende verrät, das manchmal im Beiläufigen steckt.“

 

Das letzte Gedicht in diesem Band trägt den Titel „Müde nach all den Kämpfen auf Nebenschauplätzen“ – und plötzlich meint man doch einen Hauch von Melancholie zu spüren.

 

„Inmitten eines Haufens von altem Gerümpel sitzen oder stunden=

Lang Fallobst sortieren: Wer würde sich an derlei Dingen allen

Ernstes ergötzen?“

 

Wer nicht ohnehin schon längst der charmanten, fabelhaft komischen, philosophischen Poesie von Erwin Einzinger erlegen ist, wird spätestens nach der Lektüre von „Barfuß ins Kino“ – allen Ernstes – mit einer Antwort nicht zögern.


02.2014 - literaturhaus.at - Helmut Sturm

Wer barfuß geht, spürt den Boden unter seinen Füßen unmittelbar. Im Kino begegnen wir anderen Kinogeherinnen und Kinogängern und einer Welt aus zweiter Hand. Das Unmittelbare und das Mittelbare zusammen zu erzählen, und das in der möglichst dichten Form, dem Gedicht, gelingt keinem in der österreichischen Gegenwartsliteratur wie Erwin Einzinger. Barfuß ins Kino, der siebte Band mit Gedichten des 1953 geborenen Autors und Übersetzers (u. a. John Ashbury, Robert Creeley) hält wieder ein Universum bereit, das staunen lässt.

 

Was hat Platz in einem Gedicht? Einzingers Antwort: alles. Eine Ahnung davon eröffnet gleich das erste Gedicht des Bandes, Marmeladenmonolog. Eine Braut, ein pensionierter Triebwagenchauffeur, sein Arbeitskollege Erkenbald, "eine missmutig gewordene Adele", der "Sittich, der den Namen einer barocken Verserzählung trug", werden in dem Gedicht ebenso wahrgenommen wie "die Taschenbuchausgabe einer rumänischen Version der Geschichten vom Schinderhannes" und ein "Band über die Geschichte des Silberbergbaus".

 

Und dann gibt es noch, wie im Kino, die medial vermittelten Botschaften: Auf einer Serviette "stand ganz unten der räselhafte Satz: 'An jenem Tag verspürte ich große Unruhe.'"Während auf einem Großbildschirm eine Werbeeinschaltung der Winzergenossenschaft erscheint.

 

Marmeladenmonolog besteht aus nicht mehr als zweiundvierzig Versen, die in fünf Strophen geliedert sind. Da ist keiner, der die Kunst des Verknüpfens mittels der Schnitttechnik besser verstünde als Erwin Einzinger. Er schafft Einheiten aus disparatesten Elementen und lässt den Leser zurück mit der Frage, wie das möglich ist. Robert Musils Ulrich hält einmal fest: "Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen. Sie ist von einer unermüdlichen Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so vielen Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz überschritte. Aber man merkt es nicht einmal; man ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit."

 

Die Texte des im oberösterreichischen Micheldorf lebenden Verdichters stellen solche "Nährflüssigkeit" zur Verfügung. Der Erzähler der Texte hat eine Menge Humor und geizt nicht mit Urteilen. Vielleicht gilt für ihn auch jenes "Alles zu spät", das einer meinte, "als ahnte er, daß im Hinterreifen des blauen Damenfahrrads im Schulhof keine Luft mehr war". Ein nihilistischer Apokalyptiker äußert sich da.

 

Freilich ist Erwin Einzinger ein Kind der Moderne. Er weiß um die Bedeutungslosigkeit dessen, was in den Gedichten passiert. Was an ihnen fasziniert, ist ihr bloßes Vorhandensein. Er lässt diesen Sachverhalt in einem dem Band vorangestellten Motto von Gustave Flaubert auf den Punkt bringen: "Wie die Sonne überzieht die Poesie den Mist mit Gold, Pech für die, die das nicht sehen."

 

Tatsächlich hat Pech, wer diese Gedichte nicht zur Hand nimmt. Wie "abenteuerlich anmutende Gedankengebäude" können sie das Staunen lehren, das etwas ist und nicht vielmehr nichts.