Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik

ROMAN

"Um nachzuzeichnen wie sich aus der einen Episode häufig bereits die nächste herauszuschälen beginnt oder aus dem einen plötzlich etwas ganz anderes wird, genügt normalerweise Schreibgerät und Papier.

 

Manchmal freilich vergehen Jahre oder Jahrzehnte von einem bis zum nächsten Satz..." Manchmal vergehen auch Jahrhunderte, ja Jahrtausende. Und waren wir gerade noch beim Begräbnis von Andy Warhol, sind wir im nächsten Moment schon bei jenem Juristen aus der österreichischen Provinz, der als passionierter Suppenlöffelsammler bekannt ist. Mag es Sie da noch wundern, dass Johannes XXIII. just an jenem Tag gestorben ist, an dem Thomas Bernhard den LKW-Führerschein gemacht hat? Freilich war Elvis, der Sänger und Hüftschaukler (nicht etwa der amerikanische Löschhubschrauber gleichen Namens), damals schon längst nicht mehr als Lastwagenfahrer sozusagen on Tour.

 

Die Welt ist klein, sagen Sie? Erwin Einzinger beweist das Gegenteil. Aus den abwegigsten Episoden, aus den entlegensten Begebenheiten und den abgedroschensten Mythen gewinnt er das Material für ein pralles Panoptikum vielfältig verschlungener Geschichten, die er zu einem Roman verknüpft, der nirgends endet und überall beginnt. Und wo man auch landet auf dieser Reise, nach unzähligen Abschweifungen und Schlenkern, immer und überall spielt die Musik.

 

Ein waghalsiges Unternehmen, ein schillerndes Panorama, eine skurrile Weltgeschichte- mit viel Begleitmusik.

 

erschienen 2005 im
Residenz Verlag

ISBN: [3-7017-1404-5]

 



REZENSIONEN

09.2006 - Auszug aus "Schwelle. Passage. Verwandlung - ein interpretationsenturf" - Leo Truchlar

 

Erwin Einzinger: Klangpfade Textfährten Traumspuren

 

„Klangpfade, „Traumspuren. Oder doch „Traumpfade (à la Bruce Chatwins The Songlines), „Klangspuren (à la österreichischem Musikfestival?) Und – gleichsam in der Mitte, eingegrenzt, ausgegrenzt, ohne Zeichensetzung – immer „Textfährten? Oder sollte ich nicht ganz andere Begriffe, Wortgerüste, Orientierungshilfen wählen, um mich Erwin Einzingers Roman Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik anzunähern? Wenigstens vorläufig, zumindest hier und jetzt.

   Stellen begriffliche Kategorien, stellen Etiketten und Formeln – in und mit welcher Diktion auch immer – überhaupt gangbare Wege dar, literarische Texte, speziell Einzingers Text zu lesen und diese Lektüre anderen Lesern und Leserinnen zu vermitteln? Termini markieren Endstellen, Definitionen engen ein. Literatur vibriert, tönt, singt. Sie öffnet die Ohren und die Augen, sie übersteigt die Sinne – und den eindeutig verifizierbaren Sinn.

   Wie aber löse ich Textpassagen ein bzw. auf, wie sind Rezeptionshaltungen und Aufmerksamkeitsschwellen in den konkreten Textvollzug zu überführen, wie spiele ich sprachliches Material ein in den Textprozess, in den unabschließbaren Prozess der semantischen Textaufladung und –entladung? Kritisch? Selbstkritisch? Kreativ?

   Gert Jonke hat jedenfalls – ich habe aus seiner Schelte schon zitiert – gegen das rigid nivellierende Beschreibungsvokabular des so genannten Literaturbetriebs polemisiert, insbesondere gegen die selbstherrliche Disziplinierungswut so genannter Literaturpäpste, weil diese die Texte der Literatur bloß zudecken, mithin dem lebendigen Interesse entziehen, wenn sie sie nicht ohnehin auslöschen. Deren Beredsamkeit bringt die Texte zum Schweigen, deren Zurichtungen vereiteln jene Anstößigkeit und jene Subversion, die mit zu den wirksamsten Elementen des Textpotenzials zählen und in der gegenwärtigen wie zukünftigen Rezeption stets aufs Neue Bedeutungszuschreibungen – bis hin zur Einmischung in die alltägliche Lebenspraxis – ermöglichen.

   Handlungspragmatische Gesichtspunkte und Verhaltensweisen will ich mit meiner Einzinger-Lektüre nicht eröffnen, wohl aber Einzingers Roman als Schwellenland bezeichnen, in dem sich der Autor/Erzähler und mit ihm der Leser und die Leserin mühelos von einer Textschwelle zur anderen begeben, ja jede Hemmschwelle transzendieren, mit der und durch die Spaltungen, Trennungen, Disjunktionen und Diskrepanzen, der Dislokation genauso wie der Dismembration das Wort geredet wird. Bei Einzinger geht es auf den ersten Blick nur um das Eine, doch in Wirklichkeit setzt er auf das Ganze. Sein Erzählen gewinnt – wie der Covertext so zutreffend aufweist – „(a)us den abwegigsten Episoden, aus den entlegensten Begebenheiten und den abgedroschensten Mythen das Material für ein pralles Panoptikum vielfältig verschlungener Geschichten, die er zu einem Roman verknüpft, der nirgends endet und überall beginnt. In diesem Sinn rekurriere ich auch auf James Joyce, auf Finnegans Wake – ein Buch, das den Anfang nur insofern vereitelt, als es den Schluss desavouiert. In diesem Sinn stimme ich aber auch dem nächsten Satz des Covertextes zu: „Und wo man auch landet auf dieser Reise, nach unzähligen Abschweifungen und Schlenkern, immer und überall spielt die Musik.

   Einzingers Buch ist ein Buch, das im Kopf spielt, in der akkuraten Wahrnehmung und peniblen Aufzeichnung von Geschichte, zumal Musikgeschichte, als Geschichten, als Toncollagen und Tonensembles, als Klangkombinationen und Wortgewitter, als Harmonien und Disharmonien – und immer wieder als Vernetzung des einen mit dem anderen, des Belanglosen mit dem Pathetischen, des Heroischen mit dem Banalen. In einer solchen Verflechtung verwandelt sich das eine in das andere, wird das Unscheinbarste zum allgewaltigen Impetus und die dröhnendste Allgegenwart zum minimalen, unbedeutenden Einzelgeräusch.

   Dieser Weltmusik zu lauschen und ihr mit Herz und Hirn zu frönen, bereitet ein unglaubliches Vergnügen, ein Lesevergnügen, das jeder Stimmigkeit zutiefst misstraut und doch aus diesem Misstrauen eine Tonalität entfaltet, die unaufhörlich und unentwegt alle Töne auf den Grundton der MusikSprache zu beziehen sucht.

   Seit Beginn des Nachdenkens des Menschen über sich selbst kommt der Sprache, insbesondere der Musik, die Bedeutung zu, Ausdruck und Grundlage für das Wesen des Menschen als vernunftbegabtes, der Sprache und der Musik mächtiges und durch sie und in ihnen zur Gemeinschaft fähiges Lebewesen – und nach einer ganz spezifischen Auffassung: Abbild Gottes – zu sein. Das Bild des selbstbestimmten, autonomen, verantwortlichen und durch Sprache und Musik antwortenden Wesens prägte das Selbstverständnis des Menschen über Jahrhunderte und speziell in der Neuzeit avancierte die Sprache und die Musik und mit ihnen die (künstlerische) Freiheit überhaupt zu dem Moment, welches den Menschen zum Menschen macht. In den letzten Jahrzehnten meldeten insbesondere Vertreter der Postmoderne und der Neurobiologie allerdings massive Zweifel an der Realität einer so verstandenen Freiheit an. Kann man heute an der Freiheit des Menschen noch festhalten? Oder stehen wir – wie es so griffig heißt – vor einem Paradigmenwechsel unseres Menschenbildes? Sollen oder müssen wir den Reduktionismen unserer Zeit gerade dadurch begegnen, dass wir Wirklichkeiten wie Person, Freiheit und Verantwortung ins Zentrum unseres Daseins stellen? Dass wir mit Einzinger der Fabulierlust, der Imaginationssucht zur Sprache resp. zur Musik verhelfen?

   Einzingers MusikSprache ist wahrnehmungsintensiv, detailreich, in ihrer Weltoffenheit aber nie wirklichkeitsgesättigt. Wie Heinrich Heines Zeilen „In meiner Erinnerung erblühen / Die Bilder, die längst verwittert – (…) (220) verbrieft für mich auch Einzingers Romantext, in welcher Weise Wirklichkeit stets nur modellhaft gestaltet und gelesen werden kann. So leichtfüßig und witzig, lehrreich und unterhaltsam kann man eben nur in der Textwirklichkeit über das Leben lesen, doch all das Erzählte und mitunter Erträumte können wir zu unserer aktuellen Befindlichkeit in Beziehung setzen, und  ganz nebenbei, ganz beiläufig lernen wir Leser und Leserinnen dabei, uns selbst, unsere Beziehungen, unsere Ängste und Sehnsüchte besser zu verstehen.

   Dazu, und nur dazu, eine einzige Kostprobe aus Einzingers überbordendem Angebot – ein Angebot, dessen suggestive Vernetzungen und wiederholende Aufzählungen seiner Schöpfungsgeschichte Rhythmus verleihen. Und Gedächtnis. Inventar als Vergewisserung angesichts von globaler Gefährdung und Erinnerungsverlust. Nennung als Beschwörung und als Rettungsversuch. Aufhebung von Zeit und deren Raster, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft frei flottieren:

 

An einem föhnigen Frühlingsnachmittag des Jahres 1968, nur wenige Wochen, nachdem amerikanische Soldaten im Dörfchen My Lai in der vietnamesischen Provinz Quang Ngai ein Massaker an dessen wehrlosen Bewohnern verübt hatten, sank in einem österreichischen Krankenhausbett eine Frau nach einer Serie schmerzender und erschöpfender Hustenanfälle in einen unruhigen Schlaf, in dessen Verlauf sie bald mit offenem Mund dalag, während sich zwischen dem Polsterüberzug und ihrem leicht verrutschten Gebiß glitzernde Speichelfäden spannten. Wie fiebrig-rot ihre von feinsten geplatzten Äderchen durchzogenen Wangen waren!

 

Ihr Leben hatte ihr, seitdem sie herangewachsen war, nicht viel Raum gelassen. Und da sie sich wie fast alle rings um sie im Lauf der Jahre daran gewöhnt hatte, dachte sie auch nicht über ihre Lage nach. Nun, da sie alt geworden war, schienen, wenn sie kurz einmal in Gedanken verfiel, diese stets von einem Ring aus verklärten Erinnerungen an früher gesäumt zu sein, und wenn sie dabei manchmal wie verloren vor sich hinblickte und das Gesicht entspannte, wurde ihr sekundenlang etwas, das Jahrzehnte zurückliegen mochte, beinahe wieder gegenwärtig. So leben die Menschen. Sie schaffen und werkeln. Ihre Wege kreuzen sich, sie sind traurig, wundern sich, bisweilen kichert jemand, während sie gerade etwas Wichtiges zu erzählen beginnen, sodaß sie irritiert innehalten. Gäbe ein Blick in den Spiegel in solchen Momenten irgend etwas preis?

 

(…) (428f.)

 

Der Text mit dem ungewöhnlichen Titel und der ungewöhnlichen Genrebezeichnung ist keine Wegbeschreibung zum Paradies – welchen Zuschnitts und welcher Tonlage auch immer –, doch dieses lange und langsame Erzählen ist radikal, dicht und nah an der Schmerzstelle, beschwört es doch das Schöne in seiner Abwesenheit, als Leerstelle, als Capriccio, geschrieben und komponiert auf Messers Schneide.

   Die Lücken, die Leere, die Kälte: all das fängt Erwin Einzinger in seiner raffiniert ungekünstelten Sprache ein. Er knallt die Menschen nicht ab in seinen Geschichten. Aber er trifft uns mit seiner direkten und poetischen Sprache mitten ins Herz. Eines Tages schickten ihm Peter Alexander, Ludwig van Beethoven, Bob Dylan, Einstürzende Neubauten, Jimi Hendrix, Julio Iglesias, John Lennon, Elvis Presley, Freddy Quinn, Sex Pistols, Van Morrison, Neil Young, Frank Zappa und viele mehr eine Melodie und sie hat sein Leben verändert. Mit ihnen ist er und sind wir, um auf Fernando Pessoa anzuspielen, auf vielfältige Weise anders als dieses eine Ich, von dem wir nicht genau wissen, ob es existiert.

   Wortgewaltig lenkt Einzinger unsere Aufmerksamkeit aber auch auf Orte und Opfer abseits westlicher Medienwahrnehmung und immer wieder auf die Kunst, sei`s der Sprache, sei`s der Musik, als Gegenentwurf und Gegenwahrheit. Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Fragen gegen den Strich zu bürsten und jeder noch so zwingenden Antwort auf den Zahn zu fühlen, das hat Methode bei ihm. Und bei ihm sind Tagträume nicht bloß Fluchtwege, sondern auch Wege – virtuelle Wege – zu einer menschenwürdigeren, gerechteren, erträglicheren Welt. Sie verwirklicht, sagt Max Horkheimer, „die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Diese Träume wollen verändern, indem sie uns entführen in das Reich der Utopien, der Geschichten – und Musikgeschichten. Wie könnten wir ohne Tagträume, ohne die Geschichte der Unterhaltungsmusik, ohne Einzingers Roman etwa die Doppelzüngigkeit und flagrante Rechtsverletzung unserer Politiker, die Unempfindlichkeit und Unverbindlichkeit heutiger Regierungen gegenüber Asien, gegenüber Afrika, gegenüber der so genannten Dritten Welt ertragen?


18.11.2005 - Frankfurter Allgemeine Zeitung - "Erbswurst in Isolierband" - Moritz Bassler

Erwin Einzinger führt den Pop-Roman bis zum bitteren Ende

 

Kleines Dilemma des Rezensenten: Über dieses Buch möchte man eigentlich nichts verraten, bloß dafür sorgen, daß alle es lesen - die, die durch Pop hindurchgegangen sind, und die anderen gerne auch. Müßte nicht eigentlich der Titel als Lockmittel genügen? Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik - das läßt ein Sachbuch erwarten, man erblättert denn auch Fußnoten und ein reichhaltiges Personen- verzeichnis, und doch ist das Ganze als Roman ausgeflaggt. Wen das schon hinreichend reizt, der lese nicht hier, sondern dort weiter. Für alle anderen schlagen wir das dicke Buch auf und stellen fest:Zu Beginn geht es gleich um die Erbswurst, die bereits in Günter Eichs wilder Spätprosa der "Maulwürfe" (1968 ff.), mit ihrer alphabetischen Logik eines enzyklopädischen Allzusammenhangs, direkt nach der Erbsünde kam. Bei Einzinger wird sie präziser historisch verortet als Produkt der Firma Knorr aus dem 19. Jahrhundert und damit sozusagen als frühe Verwandte der Campbell-Dosensuppe ("Warhol, Andy" hat denn auch die meisten Einträge im Register, noch vor "Presley, Elvis" und "Hitler, Adolf"). Ein paar Absätze später befindet man sich in einer "langsam zum Schallplattenladen gewordenen Fahrradwerkstätte in der Belfaster Hafengegend", die dem Vater von Van Morrison gehört, und fragt sich, wie man hier hingekommen ist. Der erste der jeweils zweieinhalbseitigen Abschnitte, aus denen dieser Roman komponiert ist, endet daraufhin mit einer Information über die irische Abstammung von Präsident Wilson, eine Fußnote informiert, daß dieser mit dem aus einem Van-Morrison-Song bekannten Jackie Wilson "freilich nicht verwandt" sei. Aha!Im zweiten Abschnitt immerhin scheint sich ein fiktionaler Plot zu entfalten, jemand wartet in einem Ferienhaus auf die Geliebte. Da diese und mit ihr die Lovestory jedoch ausbleiben, ist man zurückgeworfen auf das Blättern in der zufällig herumliegenden Lektüre und eine Erbsensuppe aus der Knorr-Tüte. So schreibt sich der Text, tatsächlich unbelastet von jeglicher Story, über Bisonsteaks, West-Coast-Jazz und Marilyn Manson, Mao, Dr. Feelgood und Karl May weiter und immer weiter.Damit hätten wir eine Pointe bereits verraten, aber vielleicht ist das auch nicht so schlimm. Denn es mußte ja früher oder später dahin kommen, daß jemand einen Poproman vorlegt, der auf Plot und Helden ganz verzichtet. Die Listenromane von Bret Easton Ellis, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Paul Morley, die Zitatcollagen Thomas Meineckes waren immer schon kurz davor - Erwin Einzinger tut es. Das Überraschende ist, daß er dabei weder viel zitiert noch Listen schmiedet, sondern konsequent und unbeirrt erzählt. Wir haben es hier mit dem wunderlichen Fall eines durch und durch narrativen Romans zu tun, dem jegliche Handlung fehlt. Auch steht diesmal kein archivierendes Pop-Ich für den Zusammenhang des Ganzen ein - erzählt wird, unter gelegentlichem Hinweis auf Quellen, auktorial, traditionell und, eben, enzyklopädisch.Am ehesten befindet man sich damit wohl im Modus des Anekdotischen. Die Anekdote, immer schon eine alternative Möglichkeit, Geschichte zu erzählen, ist ja dem Unterhaltungsmusikalischen auch nicht fern. Allerdings werden Einzingers Geschichten kaum je auf irgendeine sensationelle, unerwartete Neuigkeit hin zugespitzt; Insidertum aller Art liegt dieser Prosa fern, auch besteht kein Interesse an einem Raritätenkabinett. Daher zeigen sich (wie in der Prärie, um die es so oft geht) die Pointen eher in der Fläche, in der lockeren, aber beharrlichen Verflechtung der Dinge untereinander: "Ein Experiment mit einer einzigen der für die Prärie typischen Raygraspflanzen ergab, daß diese in nur vier Monaten bereits ein insgesamt 600 Kilometer langes Wurzelnetz gebildet hatte!"Keineswegs entsteht dabei jedoch der Eindruck eines zwanghaft postmodernen Google-Romans. Zu lässig mäandert das Anekdotengewebe zwischen Alltagsgeschichten, Historie und Pop-Trivia, zu dreist sind die Übergänge gestaltet über Sach- oder Wortzusammenhänge, die nicht immer wirklich naheliegen ("Eine ähnlich runde Brille wie Schubert trug übrigens"). Ähnlich willkürlich stiften die häufigen Zeitangaben ("Während die Szene sich ihrem erwarteten Höhepunkt entgegenbewegt, steht in Europa das Jahrhundert des Fußballs vor den Toren der Geschichte") pseudohistorische Bezüge zwischen Weitentferntem, als folge alles einer Poetik des Isolierbandes, "welches man ganz einfach unter die Bruchstelle klebt".Auf Lesungen gibt sich der österreichische Lyriker und Exlehrer Einzinger (Jahrgang 1953) geradezu als Traditionalist zu erkennen, der sein Material keineswegs dem "World Wide Web", sondern jahrelang geführten Notizbüchern entnimmt. Erst im abtippenden Verteilen auf die homogenen Textblöcke, deren Formstrenge sich der Tendenz zum Wuchern entgegenstellt, gewinnen seine manisch gesammelten Aufzeichnungen dann ihre literarische Qualität. Man ist an Robert Walser erinnert, dem die Papiergröße zugleich das Maß der Textlänge war, oder auch an den kombinatorischen Sound Meineckes, mit dem Einzingers Roman auch den Amerika- und Musik-Bezug teilt. Gelegentliche sachbuchhafte Sperrigkeiten der Syntax erhöhen nur den Charme dieser Prosa.Literarisches slow food, das sich dennoch auf der Höhe der Medientechnik befindet - und zwar auf distanziertere, eigenständigere Weise als bei den Fernseh- und Internet-Projekten von Rainald Goetz bis Walter Kempowski. Bei Einzinger ahnt man, daß die medialen Netzwerke die Struktur unseres Wissens und unserer Lust (am Text, an der Musik, an der Welt) womöglich weniger vorprägen als vielmehr ab- und ausbilden. "So viel Leben, so viel Ineinandergreifendes auf engstem Raum!" Amerika und wir, U-Musik als Humanum, der Pop und die Konserve, Pocahontas, Mike Watts Chinese Firedrill und der Herbst als "Zeit der Zwergschweinebraten"

- wer Freude an der Prärie unserer kulturellen Enzyklopädie mit ihren Graswurzeln und Maulwurfsgängen hat, den wird Einzingers Buch trotz seiner eklatanten Gattungsverstöße vor allem bestens unterhalten. Dabei hätte Günter Eich diesen Roman zu den Gedichten gezählt.

 

 

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main


18.02.2005 - Stuttgarter Zeitung - "Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" - Thomas Rothschild

 

 Unsinn wird durch ständige Wiederholung nicht weniger unsinnig. Es trifft einfach nicht zu, dass dicke Romane in unserer Zeit nicht mehr "möglich" seien. Wer, unbeirrt von der Tatsache, dass sie nach wie vor geschrieben werden, ihre Möglichkeit leugnet und eigentlich nur meint, dass er sie nicht lesen möchte, missachtet das Vergnügen des Schmökerns, die Lust am Sichverlieren in erfundenen Welten, aus denen herauszufinden der Süchtige keine Eile hat. Zur Ablehnung des umfangreichen Romans diesseits von Thomas Mann gesellt sich eine zweite Borniertheit: die Fixierung auf den Roman mit stringenter Handlung, mit nacherzählbarer Fabel. Der aber bildet nur einen Strang in der Geschichte des Romans.

 

Rückkehr des Verschnörkelten

 

Dieser hat sich freilich gegen den mäandernden Roman, den Roman, der wesentlich aus räsonierenden Abschweifungen und essayistischen Einschüben besteht, beim Massenpublikum und bei der im nach dem Mund redenden Kritik durchgesetzt wie der abendfüllende Spielfilm gegen den - älteren - Dokumentar- oder Kurzfilm, wie die tonale gegen die atonale Musik. Milan Kundera hat mehrfach bedauert, dass die literarische Tradition eines Sterne und eines Diderot im gegenwärtigen Kanon kaum Spuren hinterlassen hat. Es hat ihm nichts genützt: Auch seine Romane werden gelesen, als ginge es um reale Lebensläufe.    In der Tradition des verschnörkelten Romans, der Ersetzung von Homogenität durch freie Assoziation, der unentwirrbaren Verflechtung von Fiktion, Faktischem und Meinungsäußerung steht Erwin Einzingers neuer Roman "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik". Er ist, dies vorweg, ein ganz großer Wurf und vielleicht, um eine weitere Verwandtschaft zu nennen, das aktuelle Gegenstück zu einem der wichtigsten und originellsten Bücher der österreichischen Nachkriegsliteratur, Oswald Wieners "verbesserung von mitteleuropa". Der Reiz von Einzingers Roman besteht in der Vereinigung von Unvereinbarem, im unmittelbaren Nebeneinander von Elementen ganz unterschiedlicher Herkunft, in einem Prinzip also, das die Surrealisten für die Malerei und die Dichtung fruchtbar gemacht haben. Die scheinbar unvereinbaren Partikel werden aber bei Einzinger nicht einfach montiert, sondern in einen Erzählfluss eingebettet, der zwischen ihnen einen Zusammenhang suggeriert, wobei der Autor gerne mit einer konventionellen Floskel Jahre, ja Jahrzehnte überspringt, was wiederum absurde Bezüge ermöglicht. Die einzelnen Abschnitte sind meist durch das getrennt, was Journalisten, denen kein Übergang einfällt, zunehmend in Anlehnung an den Film einen "harten Schnitt" nennen. Manchmal genügt ein Wort, um zwei thematisch völlig disparate Geschichten scheinbar zu verknüpfen. Fußnoten stellen zudem eine trügerische Verbindung zur außerliterarischen Wirklichkeit her. In Wahrheit verspotten die Fußnoten eine (neo-)positivistische Faktenhuberei, wie man sie gerade an Österreichs Universitäten häufig antrifft, wenn etwa zu einem "schwergewichtigen" Gitarristen angemerkt wird, dass 77 % der Bewohner auf der polynesischen Insel Nauru stark übergewichtig seien, oder wenn anlässlich der Erwähnung von Chinesen, die sich mit russischer Grammatik befassen, Chomskys Syntaxtheorie zu einem Satz verkürzt wird. Die mit ernsthafter Gebärde erzeugte Komik wird verstärkt durch Kalauer, die freilich nicht immer für jeden verständlich sind. Wer denkt heute noch bei "'Büffel' Percevic" an den einstigen wenig ruhmreichen österreichischen Unterrichtsminister Piffl-Percevic? Das Wort Büffel wird bei Erwin Einzinger zu einem der zahlreichen Leitmotive.

 

Halsbrecherische Konstruktion

 

Die Geschichten haben oft anekdotischen Charakter, zuweilen imitieren sie tatsächlich den Gestus der Historiografie, und immer wieder kommen sie vom hundertsten ins tausendste. Eine Zweiseitenepisode als Exempel: Sie gelangt von einer "hellhäutigen Amerikanischen Austauschstudentin", die in einem Salzburger Bus ihren Truthahn vergessen hat, über die Sprachprobleme und einen Fußnotenexkurs zum Stadtteil Parsch zur ersten Strumpfmanufaktur der Welt und schließlich zur Naturheilkunde. Halsbrecherisch? Einzinger schaffts. Oder auch dies: vom sowjetischen Flugzeugskonstrukteur Tupolew führt ein direkter Weg zu einem Suppenkongress in Portugal, zum Fado und - über das Stichwort "Melancholie" - zu einer mit Abfall und Kot verunreinigten Schottergrube, schließlich über China und das Reisen zu Sylvester II, japanischen Kameras und leichten Mänteln. Einzingers Roman hat zwar literarische Vorläufer, er steht aber zugleich auf der Höhe der Zeit und entspricht in seiner Struktur dem Zappen am Fernseher und der globalen Vernetzung durch das Internet. Die sinnstiftende Interpretation von nicht als zusammenhängend Intendiertem gehört mittlerweile zu unseren täglichen Praktiken. "Soviel Leben, soviel Ineinandergreifendes auf engstem Raum!" heißt es an unauffälliger Stelle. Den Zusammenhalt, den es trotz allem bei Einzinger gibt, liefert tatsächlich die im Titel erwähnte Unterhaltungsmusik. Musiktitel, Musiker ganz unterschiedlicher Provenienz (und keineswegs nur solche, die im Sinne der Radiomacher der U-Musik zuzurechnen sind) werden mal beiläufig, mal ausführlicher herbeizitiert und mit ihnen Chiffren einer Kultur, die, wenn es diesen Begriff denn geben muss, für Europa und für eine amerikanisierte Welt den Namen einer Leitkultur beanspruchen dürfte. Da wird zum Beispiel die Geschichte des Bluessängers Leadbelly erzählt, der "zwei Jahre nach Franz Kafka und vier Jahre vor Adolf Hitler als Sohn ehemaliger Sklaven aus Louisiana geboren" wurde. Was hat Leadbelly mit Kafka und Hitler zu tun? Absolut nichts. Und doch lässt solche Nachbarschaft Assoziationen zu, die philosophischer, historischer oder poetischer Natur sein können.In erster Linie aber ist Erwin EInzingers Roman ausgesprochen unterhaltsam. Und das heißt nicht: anspruchslos. Das wissen wir aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik. Übrigens: dass Van Morrisson in diesem Roman der nach Elvis Presley am häufigsten genannte Musiker ist, zeugt vom guten Geschmack seines Autors.


29.01.2005 - Salzburger Nachrichten - "Pop-Packerl-Suppe" - Bernhard Flieher

Eine wahnwitzige Raserei in Assoziationsketten durch Erinnerungen und Anekdoten, die die (Pop-)Welt offenbaren: Der Oberösterreicher Erwin Einzinger schreibt "Aus der Geschichte der Unterhaltungsliteratur" und sich in einen Rausch. BERNHARD FLIEHER

 

Am Anfang ist die echte Fertigsuppe von Knorr. Und am Ende sind die von Andy Warhol gemalten Fertigsuppen-Dosen. Da muss gleich eingeschränkt werden, dass Erwin Einzingers neues Werk - ein Roman, wie auf dem Cover steht - Anfang und Ende nur kennt, weil Bücher zwischen zwei Deckel gesteckt werden müssen. Wer "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" erzählt, dem können Anfang und Ende nichts gelten. Es geht ja um nicht weniger als die ganze Welt und ihren allgegenwärtigen Klang - und zwar vermessen mit Anekdoten, harten Fakten und persönlichen Erinnerungen an, über, aus, um die Popmusik, die der Einfachheit halber "Unterhaltungsmusik" genannt wird. Damit sind die Grenzen nicht so eng zu ziehen.

Einzinger wählte einen sperrigen Titel, der irritiert. Lexikon? Historischer Abriss? Nichts davon, sondern eine Kette von virtuos verschachtelten Abschweifungen, Ausritten, Assoziationen, die so logisch wie irrsinnig daherkommen, deren Tempo und Vielfalt einem den Atem raubt. Von Traunstein in die Rock 'n' Roll Hall of Fame in Cleveland über Josef Lanner und Westcoast-Jazz zu Marilyn Manson in drei Seiten - das soll einer nachmachen!

Zehn Jahre liegt Einzingers letztes Werk "Das wilde Brot" zurück. Das wundert nicht, wenn man beginnt, sich durch das Info-Dickicht und Anekdoten-Buschwerk dieses Buches zu schlagen. So etwas anzuhäufen verschlingt Zeit. Wie in früheren Werken hält sich der 1953 in Kirchdorf/Krems geborene Autor nicht an eine lineare Erzählstruktur. Die Fülle der Beobachtungen und ihre mühelose Verknüpfung auf höchstem literarischen Niveau erinnert an William Gaddis' Meisterwerk "Das mechanische Klavier" (und der Einsatz von Fußnoten als Stilmittel an David Wallace Foster). Einzinger allerdings geht nicht wie Gaddis mit der (Kunst-)Welt ins Gericht. Er sucht keine (kritische) Ordnung im Chaos einer Zeit, in der Vergessen und Auslöschen von Information wichtiger wird als das Erinnern. Einzinger sorgt dafür, dass einem das Vergessen schwer wird.

Er hält dabei die eigene Person aus dem Spiel - ein angenehmer Umstand in Zeiten inflationär erscheinender, (auto-)biografischer Werke, die sich an der Popgeschichte entlangschlängeln. Auch wenn wir ahnen, dass wir uns täuschen (so akribisch und intensiv schreibt nur einer, der liebendes Interesse hat am Stoff), wirkt das Ganze als ginge es ihn nichts an. Er erzählt, als hätten sich die Geschichten und die Querverbindung - etwa zwischen Thomas Bernhards Lkw-Führerschein und dem Aushilfstruckfahrer Elvis Presley - ihm aufgedrängt. Daraus entwickelt sich ein Tonfall, der uns schnell zum Teil der Geschichte und auch zum Teil der erzählten Geschichten macht.

Bevor er sich und uns ins mächtige Abenteuer stürzt, setzt Einziger ein Zitat von Hank Williams: "A Song ain't nothing' in the world but a story just wrote music to it." Vom großen Hank, der so etwas wie das Mark in der Suppe der populären Musik (die immer mehr zur Brühe wird) war, stammt auch der Letztes- Stündchen-Song "When The Book Of Life Is Read". Sollte man nach der Einzinger-Lektüre tot umfallen, können alle in den Song einstimmen, denen Lou Reed und die Bauhaus-Architekten, Chopin und Robert Wyatt, Karl May und The Smiths nur verschiedene Seiten ihrer Lebensmedaille sind. Sie verabschieden sich - in der Gewissheit, herrlich unnötige Informationen verschlungen zu haben - in den Himmel über der faden Welt der Ahnungslosen, die immer noch meinen, Pop sei nichts weiter als Träller und Lalala.

 

© SN.

22.01.2005 - Die Presse - "Van Morrison und die Erbswurst" - Evelyne Polt-Heinzl


 

Eine Wissensfundgrube der Popgeschichte, mit Exkursen zu Operette und höfischer Musik, zu Chopin und Udo Jürgens: Erwin Einzingers Roman "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik".

Erwin Einzinger ist "einer der unbekanntesten bekannten Schriftsteller seiner Generation", schrieb Karl- Markus Gauß 1992 - der neue Roman könnte nun endlich die längst fällige Trendwende bringen. Zehn Jahre liegt Einzingers letztes Buch, "Das wilde Brot", zurück, eine Pause, die sich heute kaum ein Autor zu gönnen bereit ist. Dass er 2002 trotzdem den großen Preis des Landes Oberösterreich erhielt, spricht für die Qualität der zuständigen Jury.

 

Was nun mit dem Titel "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" vorliegt, ist in jeder Hinsicht monumental und ein Beweis, wie unbeirrt sich dieser Autor selbst die Treue hält und dabei sein literarisches Instrumentarium weiterentwickelt. Der Roman arrangiert in einer komplexen Komposition alltägliche Momentaufnahmen, historische Fakten und Anekdoten zu einer Geschichte unserer Zivilisation. Die Chaostheorie mag wissenschaftsgeschichtlich ein bloßer Gag gewesen sein, für Einzingers Kunst, weltweit verstreute Leben und Lebenswelten an episodischen Zipfeln zu fassen und miteinander zu verknüpfen, ist das Bild vom Flügelschlag eines Schmetterlings, der am anderen Ende der Welt heftigste Reaktionen auslöst, durchaus passend.

 

Eigentlich sind es zwei Motivstränge, mit denen der Autor die Stoffmassen über 500 Seiten souverän strukturiert, und beide sind Teil der ideologischen Globalisierungs- und Beschleunigungskultur. Was auf der ersten Seite des Buches ganz bescheiden mit einer Zichorienkaffee-Annonce des Nahrungsmittelproduzenten Knorr im "Heilbronner Intelligenzblatt" von 1838 beginnt, mündet über den Erfolg der Erbswurst in einen Siegeszug der Fertigsuppen. Der ist nicht weniger global wie die von der Musikindustrie vorangetriebene Rezeption der Popmusik - und beide Erfolgsgeschichten prägten hinfort die Mentalitätsgeschichte. Das Verbindungsschanier im Fall der Erbswurst funktioniert so: Ein Belfaster Fahrradhändler, dem ein Matrose einmal eine Erbswurst mitgebracht hat, rüstet aus Begeisterung für den Mississippi-Blues sein Geschäft nach und nach auf Schallplatten um; zu seinen Stammkunden zählt ein gewisser George Morrison, dessen Sohn Ivan dann in die USA auswandern und als Van Morrison Popgeschichte schreiben wird. Zufällig ist dabei keines der mitgelieferten Details, nicht einmal das "Heilbronner Intelligenzblatt" - die Debatte Zentrum/Peripherie bildet eine manifeste Ebene des gesamten Romans.

 

Das ist Einzingers Meisterschaft: An der Oberfläche des Textes legt er fast achtlos unscheinbare Fäden aus, mit denen er die selten mehr als ein paar Seiten langen Abschnitte scheinbar willkürlich aneinander knüpft. Da genügen eine semantische Verwandtschaft, ein stafettenartig weitergereichtes Wort oder Bild; ein erbswurstgrünes Schlauchkleid oder ein Suppenkoch kommen dem Autor genauso zupass wie Beispiele "verschlampter" Momente - im konkreten Leben, im globalen Alltag wie in der Musikgeschichte; oder der Vormarsch der Eisenbahn, bei der Jimmie Rodgers, Country-Blues-Musiker aus Mississippi und Elvis Presleys Vorbild, jahrelang als Bremser sein Leben verdiente und Generationen von Songschreibern ein Themenreservoir lieferte. Denn es geht Einzinger auch um Popkultur als Phänomen, dem keiner entkommt, einer Art weltweitem Generalbass unseres Alltags, in dem die entlegenste afrikanische Bar so wenig wie die urbane Shoppingmall ohne ihren Hintergrundsound auskommen und die Eisbärin im Zoo wie selbstverständlich "Lady Madonna" heißt.

 

Die eigentliche Vermittlungsinstanz zwischen den disparaten Erzählschnipseln ist Einzingers Interesse am Leben der Menschen mit seinen Alltäglichkeiten, Abgründen und unermüdlichen Versuchen, Sinn und Energie in das Leben zu zwingen - mit Stammtischgesprächen, absurden Passionen, Afro-Dance- Workshops oder Plattenaufnahmen. "Gar mannigfaltige Wege gehen Menschen. Wer sie mit Geduld verfolgt und vergleicht, mag manch wunderliche Hinweise und Botschaften entdecken. Oder Figuren und Linien, die insgeheim auf jene Chiffrenschaft verweisen, deren Spuren sich nahezu überall finden lassen", heißt es an einer Stelle, und an einer anderen: "Was bleibt: die unaufhaltsam voranschreitende Wirklichkeitsverkrustung - in verschachtelten Lebensträumen, in denen immens verkorkste Szenen sich aneinander reihen."

 

Genau diese Verkrustungen bringt Einzinger mit seinen "waghalsigen Darlegungen" auf den Punkt, der oft auch schmerzt und irritiert. Das Phänomen "Unterhaltungsmusik" ist der Fokus, den Einzinger hier seinen Bildern von den Zuständen in der Welt zu Grunde legt und mit dessen Hilfe er sein Mammutprojekt organisiert - so wie das in früheren Büchern das Alphabet sein konnte ("Das Erschrecken über die Stille, in der die Wirklichkeit weitermachte", 1983) oder das nicht weniger weltumspannende Phänomen der Liebe ("Blaue Bilder über die Liebe", 1992).

 

"Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" unternimmt mit globalem Ansatz eine Analyse der Lebens- und Überlebensstrategien der Menschen, denn "Tonträger, Buch und Kino dienen letztlich allesamt dem uralten Bedürfnis, zumindest momentelang ein paar Flocken vom Schaum des Lebens festzuhalten." Natürlich wird auch der an realen Informationen Interessierte reichlich bedient. Zum Teil bescheiden mit Sternchen versehen als Fußnote verpackt, enthält das Buch eine Wissensfundgrube zur Popgeschichte, mit Exkursen in die Welt der Operette, der höfischen Musik der Renaissance, zu Frederic Chopin oder Udo Jürgens. Wer an diesem Aspekt interessiert ist, kann mit Hilfe eines Registers nachlesen, dass dem Deep Purple Song "Smoke on the Water" ein wirklicher Brand am Genfer See zu Grunde liegt, der während eines Frank-Zappa-Konzerts ausgebrochen war, weshalb Ringo Starrs Karriere in Hamburg begann, was Andy Warhol mit Franz Kafka zu schaffen hat, wann George Harrison Ravi Shankar in Indien besuchte und so weiter.

 

Doch den wirklichen roten Faden liefert Einzingers unbestechlicher Blick auf Lebensmodelle und Schicksale, die er mit Fakten und Ereignissen der Geschichte wie der Alltagskultur verschränkt. Scheinbar absichtslos stellt er die verwegensten Verbindungen her, die Kontinuitäten sichtbar und Historie lebendig machen. Und alle erzählten Episoden ankern fest und unverrückbar in der allgemeinen Misere des menschlichen Lebens. Das gilt auch für die Mythen der Popkultur, die er mit gezielten Hintergrundinformationen unterfüttert: über die Herkunft der Popikonen, über die große Bandbreite menschlichen Scheiterns - der großen Stars wie ihrer namenlosen Fans - und über (verdrängte) Details aus der Geschichte Amerikas und der Welt.

 

Mit seinem souveränen Umgang auf der Inhalts- und Zeitachse zeigt Einzinger, wie in einem mentalitätsgeschichtlichen Porträt unserer Zeit alles mit allem zusammenhängt. Gegen Schluss des Buches wundert man sich immer weniger, was noch alles kommt, man beginnt fast schon zu überlegen, was noch alles kommen muss. Der neue Roman ist ohne Zweifel ein Opus magnum. Es ist zu hoffen, dass Einzinger seine subkutane Recherchearbeit weiterführt. Auch wenn bei der Gründlichkeit dieses Autors mit einer längeren Wartezeit zu rechnen ist - sie wird sich zweifellos lohnen.